Caspar David Friedrich × Surrealismus
Entzücken und Bedrückung

Sie suchten das Übernatürliche, Unbewusste, Fremde und teilten ein Misstrauen gegenüber der Annahme der reinen Vernunft: Obwohl rund ein Jahrhundert voneinander entfernt, lässt sich eine überraschende geistige Nähe zwischen dem Surrealismus und der deutschen Romantik erkennen.

 

Eine besondere Rolle spielte dabei auch Caspar David Friedrich (1774–1840), Maler der Romantik.

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Mit dem 1924 von André Breton (1896–1966) verfassten Manifest des Surrealismus begründete sich in Paris eine Bewegung, die schon einige Jahre formlos existierte. Breton, Ende 20 und Kopf der Bewegung, forderte in diesem Grundsatztext eine geistige und gesellschaftliche Erneuerung durch die Kunst. Benannt hatten sich die Surrealist*innen nach Guillaume Apollinaires Ausdruck „Surrealisme“ von 1918. Surreal heißt wörtlich über-real, ein Hinweis auf die Ziele der Bewegung.

Die Welt muss romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder.

Novalis 1798

Noch unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs wollten sie die Grenzen der Vernunft überwinden und Zugang zum Unbewussten finden – durch eine Aufwertung des Traums, der Irrationalität und Methoden des Automatismus („automatisch“ schreiben, zeichnen, malen, ohne nachzudenken, um Unbewusstes an die Oberfläche zu bringen).

André Breton, Giorgio de Chirico, Max Ernst, René Magritte, Joan Miró, Lee Miller, Salvador Dalí, Meret Oppenheim oder Dorothea Tanning zählen zu den zentralen Figuren dieser Bewegung, die tief von Sigmund Freuds Psychoanalyse beeinflusst war.

Der Surrealismus entfaltete sich auf den Gebieten der Fotografie, Malerei, Plastik und im Film – sein Vermächtnis strahlt aber weit über die Grenzen Frankreichs, Europas und über Epochengrenzen hinaus.
Die Ideen des Surrealismus breiteten sich mit der zunehmenden Internationalisierung der Bewegung seit den 1930er Jahren auch in Afrika, Asien, Mittel- und Südamerika aus. Besonders produktiven Widerhall fanden sie zum Beispiel in Mexiko bei Frida Kahlo, Diego Rivera oder Olga Costa.

Man gebe sich doch nur Mühe, die Poesie zu praktizieren.

André Breton 1924

Die Traditionen, in denen sich der Surrealismus sah, waren so vielfältig wie die neue Gruppe selbst. Insbesondere die Schriften der Jenaer und Heidelberger Romantik beeindruckten die Surrealist*innen.

Welche Parallelen, Ähnlichkeiten oder Verwandtschaften zwischen den beiden Bewegungen liegen, zeigt 2025 eine Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle.

Neben Dichtung und Philosophie der Romantik hinterließ auch die bildende Kunst dieser Epoche Spuren in den Werken des Surrealismus. Caspar David Friedrich, der spätestens seit der Jahrhundertausstellung Deutscher Kunst 1906 in Berlin an Bekanntheit merklich hinzugewann, war in Frankreich noch weitgehend unbekannt.

Eine besondere Rolle bei der Verbreitung der deutschen Romantik in Frankreich hatte der Surrealist Max Ernst (1891–1976) inne. Der aus Brühl bei Köln stammende Künstler war mit der Romantik während seines Studiums in Köln in Kontakt gekommen; zeit seines Lebens faszinierten ihn nicht nur Texte der Romantiker Novalis, Hölderlin, Schlegel und Heinrich von Kleist, sondern auch die Kunst der Romantik.

Manche Werke Caspar David Friedrichs dürfte er im Original spätestens bei einem Berlin-Besuch 1920 in der Nationalgalerie gesehen haben.

Maßgeblich zu Friedrichs Bekanntheit in Frankreich trug Albert Béguins Studie (?) L’Âme romantique et le rêve 1937 bei. Er zitierte erstmals Friedrichs Ausspruch vom „Inneren Sehen“ eines Bildes. Zudem bildete die deutsche Kunsthistorikerin Madeleine Landsberg in einem Beitrag in der surrealistischen Zeitschrift Minotaure 1939 ein paar Werke Friedrichs ab (z.B. Das Eismeer, Kreidefelsen auf Rügen, Mönch am Meer). Aufgrund ihrer jüdischen Abstammung ins französische Exil vertrieben, veröffentlichte sie hier den Text „Caspar David Friedrich – Maler der romantischen Angst“ (Caspar David Friedrich, peintre de l’angoisse romantique). Darin interpretiert Landsberg Friedrich als eine zutiefst romantische Figur, die von einer „Urangst“ geplagt werde. Sie analysiert Friedrichs Werk unter dem Eindruck der Psychoanalyse und deutet etwa seine Mondlandschaften als Ausdruck unerfüllter Sehnsucht.

Welchen Einfluss Landsbergs Artikel auf den Surrealismus hatte, lässt sich schwer messen. Bemerkenswert ist aber der Zeitpunkt des Erscheinens: 1939 wurde Friedrich längst als Verkörperung eines „germanischen Geistes“, als nationalistischer Vorreiter von den Nationalsozialist*innen vereinnahmt, seine Landschaften als „deutsch“ überhöht. In Frankreich dagegen machten die Surrealist*innen sich Friedrich subversiv zu eigen, indem sie seine Bilder antimilitaristisch adaptierten/umdeuteten/entfremdeten: nicht wenige von ihnen waren im Widerstand aktiv.

Caspar David Friedrich, deutsche Romantik und Surrealismus haben viel gemeinsam.

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Caspar David Friedrich forderte, der Künstler solle nicht bloß malen, was er vor sich sehe, sondern was er in sich sehe. Diese Vorstellung eines „inneren Sehens“ stellt die äußere Natur in den Dienst seelischer Erfahrung.

Friedrichs Landschaften sind keine realistischen Abbilder, sondern entstanden durch seine Vorstellungskraft, sind kunstvoll vor seinem inneren Auge komponiert. Aber Erfindung allein reichte nicht. Friedrich sagte: „Eine Landschaft muss nicht erfunden, sondern empfunden sein.“

100 Jahre später machten sich auch die Surrealist*innen auf die Suche nach dem Inneren – allerdings viel radikaler und experimenteller. Mit Mitteln wie dem Automatischen Schreiben (möglichst freies Schreiben im Fluss der Gedanken oder assoziativ) oder der Traumanalyse wollten sie das Unterbewusste künstlerisch erschließen.

Giorgio de Chiricos (1888–1978) Bild Porträt von Guillaume Apollinaire zeigt den Dichter Apollinaire als schwarzen Schatten, die bebrillte Büste im Vordergrund verweist auf den mythischen Dichter Homer, der als blind galt. Die Blindheit wird hier zum Symbol der Innenschau, aber auch der dichterischen Schöpfungskraft.

Friedrich und Surrealist*innen verfolgten damit dasselbe Ziel: Das Empfundene, das Unsichtbare sichtbar zu machen.

3 Lorem ipsum romantische Ruinen

In der Kunst Caspar David Friedrichs taucht die Ruine meist als atmosphärische Kulisse für seine Stimmungslandschaften auf.
Architektonisch idealisierte, verfallene Kirchenfenster und Klosterruinen erinnern an eine Verbindung zwischen Mensch, Natur und Glaube. Friedrich überhöhte reale Orte, veränderte sie nach seiner Empfindung und schuf so überirdische Sehnsuchtsorte.

Die romantischen Ruinen [sind] das moderne Mannequin oder jedes andere Symbol, das geeignet ist, die menschliche Phantasie eine Zeitlang zu beschäftigen

André Breton, Begründer des Surrealismus, sah in Ruinen nicht nur das Ende – sondern auch eine Öffnung zum Unbewussten, zum Traum

Auch in den surrealistischen Bildwelten erscheint die Ruine – jedoch als Ort des Entgleitens, des Unheimlichen. Bei Max Ernst wurde die Ruine zum Trümmerfeld, das die Natur sich zurück erobert.

Paul Nash deutete Friedrichs monumentales Gemälde Das Eismeer in ein Totes Meer um: Nicht Eisschollen, sondern Wrackteile verunglückter Flugzeuge türmen sich unter einem freudlosen Kriegshimmel.

In allen Fällen bleibt die Ruine Projektionsfläche: für persönliche Ängste, kollektive Verluste, spirituelle Leere oder metaphysische Suche.

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Der Wald ist bei Caspar David Friedrich mehr als eine Ansammlung von Bäumen – er ist ein mythischer Ort. Friedrichs Wälder sind dunkel, verwunschen, oft menschenleer.

Sie erscheinen als übermächtig und zuweilen religiös oder politisch aufgeladen. Der Romantiker Ludwig Tieck (1773–1853) erfand ein eigenes Wort für das Gefühl von Ehrfurcht, Geborgenheit und Schauer, das seine Generation im Wald überkam: Waldeinsamkeit.

Die wunderbare Lust, frei zu atmen im offenen Raum, doch gleichzeitig die Beklemmung ringsum von feindlichen Bäumen eingekerkert zu sein. Draußen und drinnen zugleich, frei und gefangen

Max Ernst, der seine erste Begegnung mit dem Wald als eine Mischung aus Entzücken und Bedrückung beschreibt

Im Surrealismus wird der Wald lebendiger, surrealer, sogar grotesk. Max Ernst entdeckte in den 1920er Jahren das Motiv des Waldes neu. Damals begann er, mit den künstlerischen Techniken Frottage (Abnehmen von Oberflächenstrukturen durch Abreiben mit Kreiden) und Grattage (Wegkratzen von Öl-Malschichten) zu experimentieren.

Sowohl für Romantik als auch Surrealismus ist der Wald ein Ort des Übergangs, der zunehmend zum Spiegel des Unterbewussten wird.

5 Lorem ipsum Hymnen an die Nacht

Die Nacht spielt in Romantik und Surrealismus jeweils eine zentrale Rolle. Für Caspar David Friedrich ermöglicht die Nacht Einkehr und Innehalten.

In seinen Gemälden erschuf er nächtliche, nahezu sakrale Räume – still, melancholisch und von erhabener Schönheit. Seinen Hang zu mondbeschienen Landschaften kommentierte Friedrich einmal selbstironisch, wie sich ein Freund erinnert:

Er lachte sich selbst aus, daß er lauter Mondschein male, und meinte, wenn die Menschen nach ihrem Tode in eine andere Welt versetzt würden, so käme er sicherlich in den Mond.

Karl Förster u.a., Biographische und literarische Skizzen aus dem Leben und der Zeit Karl Förster’s, hrsg. von L. Förster, Dresden 1846, S. 156f.)

Das fotografische Verfahren der Infrarotreflektografie ermöglicht einen Einblick in Friedrichs Malprozess. In einem der letzten Ölgemälde vor Friedrichs Tod 1840 werden damit unterliegende Malschichten sichtbar.

Anders als auf dem fertigen Bild zeigt der Entwurf noch mehr Schiffe auf dem Wasser. Durch das Weglassen einiger Schiffe gelang es Friedrich, den Bildeindruck der einsamen Mondnacht zu verstärken.

In der Nacht sind Logik und Ordnung außer Kraft gesetzt – eine Bühne für das Absurde, Erotische, Albtraumhafte. In den Nachtbildern des Surrealismus löste sich die Realität mehr und mehr auf, wodurch sich ein Freiraum für Träume, Halluzinationen und das Unbewusste öffnete.

In ihrem Rückgriff auf die Romantik beschränkten sich die Surrealist*innen keineswegs nur auf Friedrich. Bekannt waren zu der Zeit ebenso der von Friedrich beeinflusste Carl Gustav Carus und Philipp Otto Runge. Besonders in Runges komplexen Bildwelten finden sich Themen und Haltungen, die man auch bei den surrealistischen Künstler*innen in aktualisierter Form entdecken kann: Die Faszination für das Ursprüngliche, zum Beispiel personifiziert als Mutter Erde, aber auch Pflanzensymbolik spielen in beiden Bewegungen eine große Rolle. Runge schloss auch in seinen Theorien direkt an die Bewegung der Jenaer und Heidelberger Frühromantik an, die mit der „progressiven Universalpoesie“ eine Welt anstrebten, in der Kunst und Leben ganz voneinander durchdrungen sind und wechselseitig aufeinander einwirken. Nach einer ähnlichen Vereinigung suchte auch der Surrealismus.

Vor Runges frühem Tod 1810 standen er und Friedrich in Kontakt; sie hatten sich bereits um 1803 in Dresden kennengelernt. Dass auch Friedrich sich mit wissenschaftlichen Fragestellungen beschäftigte, belegt sein Schriftverkehr mit Gelehrten aus Theologie, Naturphilosophie oder Naturwissenschaften.

Während Friedrichs Nacht zur geistigen Vertiefung einlädt, ist sie im Surrealismus traumwandlerischer Spielort der Psyche. In beiden Fällen steht die Nacht aber für das, was jenseits des Sichtbaren liegt – sei es göttlich oder im eigenen Unterbewusstsein.

6 Lorem ipsum Max Ernst und Caspar David Friedrich

Der Surrealist Max Ernst setzte sich intensiv mit der deutschen Romantik auseinander. Besonders Heinrich von Kleist (1777–1811) und Caspar David Friedrich beeinflussten ihn:

Tatsache ist, dass Friedrichs Bilder und seine Anschauungen mir, fast seit ich zu malen anfing, immer mehr oder weniger bewusst im Sinn gelegen haben.

Max Ernst 1960 (zit. n.: Edouard Roditi, Ein Mittagessen mit Max Ernst, in: Der Monat, 13. Jg., H. 1950, März 1960, S. 70.)

Kleist war ein Zeitgenosse Friedrichs, er sah dessen Gemälde Der Mönch am Meer bei der ersten öffentlichen Präsentation des Bildes in Berlin 1810 – und war sofort gefangen. Es zeigt eine beinahe leere Landschaft dominiert von einem bewegten Wolkenhimmel, im Vordergrund ein einsamer Mensch am Strand, der gedankenverloren auf das Meer zu blicken scheint.

Tief ergriffen fasste Kleist 1810 seinen Seheindruck zusammen:

»Nichts kann trauriger und unbehaglicher sein, als diese Stellung in der Welt: der einzige Lebensfunke im weiten Reiche des Todes, der einsame Mittelpunkt im einsamen Kreis. Das Bild liegt, mit seinen zwei oder drei geheimnisvollen Gegenständen, wie die Apokalypse da, als ob es Youngs Nachtgedanken hätte, und da es, in seiner Einförmigkeit und Uferlosigkeit, nichts, als den Rahm[en], zum Vordergrund hat, so ist es, wenn man es betrachtet, als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären.«

Ähnlich „schneidend“ sind die Bilder, die Salvador Dalí und Louis Buñuel für den surrealistischen Film Ein andalusischer Hund 1929 fanden.

Auch hier markiert der (wahrhaftige) Schnitt durchs Auge die radikale Abkehr von herkömmlichen Sehgewohnheiten hinein in innere Welten.

Max Ernst wurde auf Kleists Kommentar zu Friedrichs Ausstellung erst in den 1960ern aufmerksam. Umgehend übersetzte er den Text ins Französische und fügte noch eine eigene Bebilderung hinzu.

Mit der Lithografie Seelandschaft mit Kapuziner griff Ernst Friedrichs Gemälde, das früher noch als „Seelandschaft mit Kapuzinermönch“ betitelt war, auf seine Weise auf. Frottage-artig durchgedrückte Flächen verkehren die Verhältnisse von oben und unten, hinten und vorne. Der strudelnd-bewegte Himmel wird von abstrakten Strich-Wellen fast verdrängt. Befinden wir uns schon ganz im grüblerischen Inneren der einsamen Gestalt am Strand?

In Caspar David Friedrich sah Max Ernst einen geistigen Verwandten und Vorläufer des Surrealismus: seine Vorstellung von der empfundenen Landschaft, Nacht und Wald als Räume der Einkehr und des Blicks ins Übermenschliche, seine radikale Reduktion. Ernsts eigene Arbeiten – etwa seine Wälder, Vogelmenschen oder Collagen – zeigen Parallelen zu Friedrichs Symbolwelt, überspitzen sie aber ins Albtraumhafte.

Der Dialog zwischen Caspar David Friedrichs Kunst und dem Surrealismus zeigt: Was um 1800 romantisch begann, fand über 100 Jahre später seine surreale Wiedergeburt – traumhaft, bedrohlich, poetisch, transzendent.